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Seit der Corona-Pandemie verzeichnet die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutische Medizin am Neuromed Campus Linz eine kontinuierliche Zunahme von jungen Anorexie-Patient*innen. Die Ursachen dafür sind komplex – sie reichen vom gesellschaftlichen Druck über die Sogwirkung der Social-Media-Hochglanzbilder bis zu individuellen psychischen Belastungen. Im Gespräch mit Klinikleiterin Prim.a Dr.in Ellen Auer-Welsbach und Martin Heim, dem stellvertretenden Leiter des Jugendbereichs von pro mente OÖ, anlässlich des Symposiums „Einblick in die Vielfalt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutische Medizin. So arbeiten wir!“ am 2. Oktober 2025, zeigen sich nicht nur die Herausforderungen, vor denen Jugendliche und ihre Familien aktuell stehen, sondern auch Wege, wie Verständnis, Offenheit, Gemeinschaft und Unterstützung einen entscheidenden Unterschied machen können.
„Wir beobachten einen deutlichen Anstieg – Anorexia nervosa ist mehr denn je präsent. Eltern beobachten, dass gegenwärtige Schönheitsideale einen großen Einfluss ausüben. Viele Jugendliche nehmen in kurzer Zeit extrem ab. Das ganze Leben der Betroffenen beginnt sich ums Essen zu drehen: Kohlenhydrate werden weggelassen, Sport wird exzessiv betrieben, es dürfen keine Öle mehr verwendet werden, Süßigkeiten sind tabu. Dazu wird oft sehr weite Kleidung getragen – Eltern bemerken die Veränderungen mitunter erst spät“, schildert Prim.a Dr.in Ellen Auer-Welsbach die Dynamik, die sie und ihr Team derzeit erleben.
Anorexie zählt zu den schwerwiegendsten psychischen Erkrankungen im Jugendalter. Entscheidend ist, dass Eltern und andere nahestehende Personen nicht nur die körperlichen Symptome wahrnehmen, sondern verstehen, dass es sich um eine psychische Erkrankung handelt, so Auer-Welsbach: „Was uns die Patient*innen eigentlich zeigen wollen, ist: ‚Mir geht es seelisch sehr schlecht.‘ Deshalb ist es so wichtig, miteinander ins Gespräch zu kommen – über Gefühle, Belastungen, über das, was einen im Inneren beschäftigt. Das bedeutet auch, echtes Interesse zu zeigen und die Frage ‚Wie geht es dir?‘ nicht oberflächlich zu stellen, sondern wirklich zuzuhören.“
Isoliert in den makellosen Echokammern von Social Media
Soziale Medien verbinden – und grenzen zugleich aus. Was als Ort des Austauschs gedacht war, kann leicht zur Bühne für Vergleiche und Selbstinszenierung werden. Zwischen perfekt inszenierten Feeds und endlosen Trends verlieren viele Jugendliche das Gefühl für Realität und Maß.
„Ich glaube, dass der stark ausgeprägte Individualismus auch einer der Gründe ist, warum psychische Erkrankungen aktuell zunehmen. Wenn das ‚Ich‘ im Mittelpunkt steht und das ‚Wir’ zweitrangig wird, führt das oft zu Vereinzelung. Die Selbstoptimierung, die heute so intensiv vorangetrieben wird – man soll sich verbessern, einem Idealbild entsprechen – spielt dabei ebenfalls eine große Rolle. Denn genau darum geht es letztlich auch bei diesem Krankheitsbild“, erklärt Martin Heim, stellvertretender Leiter von pro mente Jugend.
Die ständige Beschleunigung der Informationsströme durch die digitalen Kommunikationskanäle erzeugt nicht nur zusätzlichen Druck – sie macht gerade junge Menschen auch umso empfänglicher für äußere Einflüsse, erklärt Auer-Welsbach: „Früher hat man im Fernsehen minutenlang zugeschaut, wie jemand langsam den Berg hinaufgeht. Heute scrollt man in Sekunden durch TikTok. Diese Geschwindigkeit verändert die Aufmerksamkeitsspanne – das Gehirn kann das gar nicht verarbeiten. Immer wieder dieselben Inputs – das macht beeinflussbar.
.Wir wissen das alles und trotzdem gibt es keine Grenzen, keine Regelungen. Es braucht hier gesellschaftliche Gegenaktivitäten, die Jugendliche auf neue Gedanken bringen und motivieren, eigene Pläne, eigene Träume zu entwickeln.“
Gemeinschaftserleben als Gegenpol
Um den Entfremdungstendenzen im digitalen Alltag vieler Jugendlicher entgegenzuwirken, sind Räume nötig, in denen echtes Miteinander wieder spürbar wird. Orte, an denen Beziehungen wachsen dürfen – abseits von Leistungsdruck, Vergleichen und digitalen Filtern. „Gerade in der Covid-Zeit haben wir gesehen, wie stark Isolation wirkt. Wir brauchen mehr echte Begegnungen, den Austausch unter Gleichaltrigen, gemeinsame Aktivitäten. In vielen Familien sieht man heute, dass beim Essen alle mit dem Handy sitzen, die Kommunikation geht verloren und damit auch die gelebte Emotionalität“, betont Prim.a Dr.in Ellen Auer-Welsbach. Das unmittelbare Erleben von Zugehörigkeit ist auch ein wirkungsvolles Element der Arbeit an den Standorten von pro mente Jugend, schildert Heim: „Ein zentrales Thema, etwa in der work.box, ist: Wie kann man die Erfahrung, sich in einer Gruppe geborgen zu fühlen, wiedergewinnen – oder überhaupt zum ersten Mal machen? Wir geben einen Rahmen vor, bauen Tagesstrukturen auf, schaffen aber auch Freiräume, in denen junge Menschen Selbstwirksamkeit entwickeln können – nicht nur in Bezug auf den eigenen Körper, sondern weil sie etwas schaffen, weil sie in einer Gruppe wichtig sind, weil sie angenommen werden, so wie sie sind. Etwas, das uns viele Jugendliche von ihrer Zeit in der work.box erzählen, ist: ‚Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich so wohl und sicher gefühlt habe.‘“
Wie Eltern Halt geben können
Auch wenn Essstörungen für Familien belastend sind, können gerade Eltern und Bezugspersonen viel dazu beitragen, dass Jugendliche wieder Vertrauen und Stabilität finden. Es geht nicht darum, alles richtig zu machen, sondern darum, da zu sein – um kleine gemeinsame Momente, eine offene Haltung und den Mut, über Gefühle zu sprechen.
„Wichtig ist, sich mit dem Kind Hilfe zu holen, wenn nötig auch für sich selbst als Mama oder Papa. Dafür stehen etwa die Psychosozialen Beratungsstellen von pro mente OÖ in ganz Oberösterreich zur Verfügung. Denn je stabiler die Eltern stehen, desto klarer können sie betroffenen Jugendlichen Struktur geben“, so Martin Heim. Und Ellen Auer-Welsbach ergänzt: „Das Allerwichtigste ist Kommunikation: mehr miteinander reden, gemeinsame Mahlzeiten genießen, ein positives Vorbild sein und Akzeptanz vermitteln: ‚Du bist gut so, wie du bist.‘“
„Das Allerwichtigste ist Kommunikation: mehr miteinander reden, gemeinsame Mahlzeiten genießen, ein positives Vorbild sein und Akzeptanz vermitteln: ‚Du bist gut so, wie du bist.‘“
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